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Sonnenstrahlen über Lourdes

Ich kann mich noch gut an die erste Begegnung mit Lourdes erinnern. Für unsere Ferien hatten Sandra und ich eine Motorradreise in die Pyrénéen geplant. Kreuz und quer führte unsere Fahrt über kurvenreiche Strassen und wunderschöne Pässe zwischen Frankreich und Spanien. Die Streckenwahl überliessen wir ganz dem Zufall und irgend einmal während unserer Reise fuhren wir völlig ungeplant an der Ortstafel von Lourdes vorbei. Von diesem Städtchen wussten wir das, was wohl die meisten Menschen in unserem damaligen Alter, dass es ein bekannter Pilgerort ist, mehr aber auch nicht. Doch, wir kannten noch den Witz vom heiligen Wasser im Brunnen, vom Rollstuhl und den neuen Reifen.

Es war bereits nach Mittag und da der Zufall uns nun schon mal hierher verschlagen hatte, beschlossen wir den Rest des Tages hier zu verbringen und uns für die Nacht ein Hotelzimmer zu suchen. Schnell hatten wir etwas geeignetes gefunden und schon machten wir uns frisch geduscht auf einen ersten Erkundungsspaziergang Richtung Grotte und heiliger Quelle. Der Weg dorthin führte zwangsläufig durch die Hauptgasse wo sich links und rechts Geschäft an Geschäft reihte. Hier fand man alles und noch mehr was das Pilgerherz begehrte. Marien- und Heiligenstatuen in allen Grössen und Formen, Rosenkränze, Kreuze aus allen nur erdenklichen Materialien, Kerzen, Bilder, Posters und nicht zu vergessen die Kanister und alles mögliche von Behälter und Gefässe für das Abfüllen des heilbringenden Wassers. Es wimmelte von Leuten und überall herschte ein geschäftiges Treiben. Unser Vorurteil, das ganze sei nur ein grosses Geschäft und letztendlich gehe es auch hier nur um Geld und Verdienst wurde hier nur noch bestärkt. Heute weiss ich, dass Vorurteile zu haben eine schlechte Voraussetzung sind, sich eine neutrale Meinung zu bilden, wie immer sie auch sein möge. Man sucht in allem und alles eigentlich nur eine Bestätigung dieser vorgefassten Meinung ohne sich dessen wirklich Bewusst zu sein. Und wer sucht, der bekanntlich auch findet denn wo die Sonne scheint gibt es auch Schatten und Schatten fanden wir genug bei unserer ersten Begegnung mit Lourdes. Es folgten zwei weitere Besuche dieses Ortes an die ich mich noch gut und gerne erinnere. Wie bereits bei unserem ersten Besuch waren wir mit dem Motorrad in den Pyrénéen unterwegs diese Male aber in Begleitung von uns lieben und teuren Freunden.

Nach Sandras Tod begab ich mich einerseits aus Verzweiflung und anderseits um irgenwie Trost zu suchen einer plötzlichen Eingebung folgend auf eine Pilgerreise auf dem Jakobsweg nach Santiago de la Compostela in Spanien. Ich startete mit dem Fahrrad, weil Radfahren das einzige war, wo mich Sandra nie begleitet hat. Mit dem Rad war ich gewohnt, alleine unterwegs zu sein und das half mir in dieser Zeit sehr. Irgendwo während meiner Reise sah ich auf der Karte, dass mein Weg ca. 130 Km nördlich an Lourdes vorbei führen sollte. Als ich den Namen diese mir inzwischen bekannten Ortes las, verspührte ich den unwiederstehlichen Wunsch, nochmals dorthin zu fahren. So verliess ich eigentlich unplanmäsig den Jakobsweg und fuhr südwärts. Genau am Auffahrtstag Mittag erreichte ich die Ortseinfahrt am gleichen Ort wie all die Male zuvor, nur diesmal war ich allein, ganz allein. Bei einer kleinen Pension hielt ich an. Die Pilger, die ich am Vortag über meine Absicht nach Lourdes zu fahren unterrichtet hatte, warnten mich an Pfingsten diesen Pilgerort zu besuchen denn ich hätte bestimmt Schwierigkeiten, ein Hotelzimmer zu finden und wenn, dann nur zu einem überhöhten Preis. Nun, ich wollte gleich einmal sehen ob sie recht behalten sollten. So klingelte ich an der Tür, denn sie war verschlossen. Der Pensionbesitzer der die Türe einen Spalt weit öffnete, wollte mir meine Frage nach einem Zimmer irgendwie nicht recht beantwortete. Während er noch so herumduckste was er mir nun entgegnen solle, drängte sich eine korpulente Frau, ich nahm an es sei die Wirtin zwischen ihn und dem Türrahmen, musterte mich von Kopf bis Fuss, wobei mein durchnächtigtes und unrasiertes Gesicht (ich war die halbe Nacht durchgefahren) nicht gerade einen vorteilhaften Eindruck machten und krächzte: "für das Velo haben wir sowiso keinen Platz". Und nun wunderte ich mich über mich selbst, denn statt wie ich es von mir in so einer Situation gewohnt war gehässig zu antworten oder wenigstens zu denken: "wenn ihr es nicht nötig habt, so blast mir doch......" verstand ich diese Frau, ja, ich hatte in mir ein so tiefes Gefühl von Frieden und Verständniss, wie ich es in einer ähnlichen Situation noch nie gekannt hatte. So versicherte ich der Wirtin, ich verstehe sie gut und hätte auch gar kein Problem mich nach einer anderen Möglichkeit umzusehen. Nun fing sich das Blatt zu meinem grossen Erstaunen langsam an zu wenden. Zuerst hatte sie kein Platz für das Fahrrad, dann wollte sie es doch irgendwie im Gang verstauen können, dann wollte sie mir ein Zimmer geben aber nur wenn ich dafür den vollen Preis von 46 Euro fürs Doppelzimmer, andere hatte sie keine frei, bezahlen würde, dann konnte sie das Zimmer aber erst ab 15.00 Uhr geben, da sie bis dahin keine Zeit hätte es herzurichten. Alles war mir recht und das sagte ich ihr auch. Ich war froh ein Bett zu haben und genoss das wunderbare Gefühl dieses für mich unbekannten inneren Friedens, was immer sie mir auch vorzuschlagen hatte. Ich währe ihr äusserst dankbar, sagte ich ihr, wenn ich Gepäck und Fahrrad hier lassen dürfte, so würde ich dann in der Zwischenzeit einen Spaziergang in die Basilika unternehmen. In Ordnung, meinte sie und gerade als ich aufbrechen wollte, bot sie mir an, mir nun doch noch soffort eine Douche mit Badtuch und Seife bereitzustellen und als ich mit Douchen fertig war hatte sie bereits etwas zu Essen zubereitet und meinte, ich sei doch sicher hungrig nach dieser langen Fahrt. Und dies noch vorweggenommen. Letztendlich bezahlte ich statt der angekündigten 46 Euro fürs Zimmer nur noch gerade 26 Euro und erst noch inkl. dem Nacht- und Morgenessen. Ich blieb mehrere Tage in dieser Pension und jeden Abend machte sich die Wirtin schon Sorgen, wenn ich mich zum Essen etwas verspätete. Solche Begebenheiten hatte ich noch einige während meiner Reise und vielleicht komme ich irgend wann mal dazu auch diese Erlebnisse aufzuschreiben. Auch dieses wunderbare Gefühl von innerem Frieden und Verständniss ist geblieben, Gott sei dank bis heute.

So spazierte ich also geduscht und gestärkt, jedoch wieder in Gedanken versunken auf den grossen Platz vor der Basilika und setzte mich unweit der Grotte auf eine Bank. Ein etwa 12 jähriger Junge schob einen älteren Herrn, ich nehme an es war sein Grossvater, in einem Rollstuhl auf die Grotte zu. Eine grössere Menschenansammlung versperrte ihnen den Weg. Kaum war aber der Junge in die Nähe der Gruppe gekommen machten sie ihm wie selbstverständlich Platz und eine Frau trat aus der Reihe und half dem Jungen den Rollstuhl die Rampe hochzuschieben. Sie kannten sich nicht, die Frau und der Junge, trotzdem entstand ungesprochen augenblicklich eine offenherzige, verständnissvolle Hifsbereitschaft. Durch diese Szene wie aufgewacht, schenkte ich dem Geschehen auf dem Platz mehr Aufmerksamkeit. So erfasste mein Blick gleich hinter dem Jungen eine junge Frau die ein Bett auf Rollen vor sich hinschob. Im Bett lag eine komplett eingemummte Person, mehr konnte ich nicht erkennen. Gerade neben mir hielt die junge Frau das Bett an, ging zum Wasser und kam mit einem gefüllten Becher zum Bett zurück. Nachdem sie das Gesicht etwas frei machte, hob sie mit der linken Hand der Kranken etwas den Kopf während sie ihr mit der rechten den Becher zu den Lippen führte. Nun konnte ich ihr Gesicht erkennen. Es war eine ältere Frau. Sie musste sehr krank sein denn ihr Haut war bleich, ja fast durchsichtig, ihre Wangen ganz eingefallen, die Backenkrochen traten spitz hervor und die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Aber gerade von diesen Augen konnte ich meinen Blick nicht abwenden. Trotz ihrem sicher schweren Leiden strahlten sie eine ungewöhnliche Ruhe aus. Voller Liebe und Dankbarkeit lagen sie auf dem Gesicht der jüngeren Frau welche diesen Blick ebenso voller Mitgefühl und Hingabe erwiederte. Diese gegenseitigen Blicke berührten mein Herz und erzeugten ein wunderbares Gefühl von hingebungsvoller Liebe in meiner Seele. Gerade Mitgefühl, Hilfsbereitschaft und Hingabe traf ich hundertfach in den Blicken der Menschen auf diesem grossen Platz und auch darüber hinaus. Die Mutter mit ihrem gelähmten Sohn, die Enkelin mit ihrem betagten Grossvater, die Grossmutter mit ihrem blinden Enkel oder aber der behinderte Mensch welcher von einem ihm vorher völlig unbekannten, freiwilligen Helfer während seinem Aufenthalt in Lourdes unentgeltlich betreut und gepflegt wird. Die oftmals ganz jungen Pfleger erstaunten mich am meisten. Zuhause sind es sicher ganz normale junge Leute, welche hauptsächlich Freunde und Vergnügen im Kopf haben, wie es wohl auch üblich ist für Menschen in diesem Alter. Hier aber, wo sie gebraucht werden, erfüllen sie ihre Aufgabe mit echter Hingabe und grossem Mitgefühl und werden dem in sie gesetzte Vertrauen mehr als gerecht.

Im Verlauf der Tage welche ich in Lourdes verbrachte erlebte ich, wie hier die sonst meist unbeachtet und am Rand unserer Gesellschaft lebenden Kranke und Behinderte für einmal die wichtigste Rolle spielen dürfen. Bei der Essensausgabe werden sie zuerst bedient, im Umzug dürfen sie zuvorderst mitmachen, in der Kirche oder im Kino sind für sie die besten Plätze reserviert und überall wo sie auftauchen werden sie von helfenden Händen erwartet. Während meinem ganzen Aufenthalt durfte ich mit ihnen sein, mit ihnen sprechen, ihnen zuhören, sie beobachten und in den Augen all dieser Menschen, ob gesund oder krank , jung oder alt und welcher Nationalität auch immer, erkannte ich etwas was ich aus Sandras Augen her bestens kannte. Hoffnung. Hoffnung auf Liebe, Hoffnung auf gesunde Kinder, Hoffnung auf ein langes Leben, Hoffnung endlich das Glück zu finden, Hoffnung auf Heilung, Hoffnung, dass mit dem Tod nicht alles zu Ende ist sondern weitergeht, irgendwie, irgendwo. Und etwas habe ich in den vielen Gesprächen mit diesen, vor allem kranken und behinderten Menschen erfahren dürfen. Sie wissen sehr wohl, wie klein die Chance auf Heilung ist. Aber es ist Tatsache, dass auch ultraskeptiker unter den Mediziner haben bestätigen müssen, dass in Lourdes Heilungen geschehen, aber vom medizinischen Standpunkt aus nicht zu erklähren sind und sie passieren auch heute noch immer wieder. Die Chance ist klein, das wissen alle, aber sie ist da und mit ihr bleibt die begründete Hoffnung: "Vielleicht trifft es ja gerade mich, und warum denn auch nicht". Ich habe mit diesem Bericht ein Foto mitgesandt das für mich alles aussagt, was mir selbst Lourdes sagt und bedeutet.



Eine noch junge Frau sitzt in ihrem Rollstuhl. Man sieht es ihr an. Sie ist erschöpft und müde gegen ihre Krankheit anzukämpfen. Unübersehbar für alle aber hält sie im Arm das einzige was ihr, nachdem alles irdische versagt hat, in ihrer Situation geblieben ist. Ihr Glaube an Gott. Was könnte man ihr an seiner Stelle denn anbieten. Eine Ferienreise in die Karibik, ein schönes Geschenk, ein dickes Bankkonto, ein Haus oder andere Ahnnehmlich- oder Kostbarkeiten. Gegen nichts in der Welt was Menschenhand ihr bieten könnte würde sie in ihrer jetzigen Situation ihren Glauben, ihren Gott eintauschen, das weiss ich bestimmt.

Sandra hatte einst vor Jahren in der Stadt etwas gesehen, was ihr sehr gefiel. Kaufen wollte sie es nicht, denn es war ihr viel zu teuer. Aber von Zeit zu Zeit, wenn sie gerade Lust hatte, ging sie es sich in der Stadt einfach wieder mal etwas ansehen. Im Geschäft kannte man sie inzwischen und wussten auch das sie es nie kaufen würde, aber sie hatten trotzdem Freude daran, das eines ihrer Exponate einen solchen Eindruck auf Sandra machte. Als nun Sandra das zweite mal opperiert werden musste und es mir danach einfach nicht gelang sie etwas aufzumuntern, bin ich in meiner Verzweiflung in die Stadt gefahren. Längst hatten sich auch für mich alle Werte verschoben. Was nützte mir das Geld auf dem Sparheft, wenn Sandra traurig und unglücklich war. Der Verkäufer erkannte mich und fragte ganz erfreut, ob ich meiner Frau nun diesen lang ersehnten Wunsch erfüllen wollte. Im Spitalbett überreichte ich am Abend Sandra das Geschenk. Sie packte es aus und fing an, fürchterlich zu weinen. Als sie sich nach langem etwas erholt hatte sagte sie mir, sie sei so untröstlich und müsse weinen weil sie es sich nie hatte vorstellen können, das ihr gerade dieses Geschenk einmal überhaupt keine Freude mehr machen würde. Sie würde es viel lieber tauschen, nein sie würde am liebsten alles was sie besitze eintauschen für jeden noch so kurzen Augenblick, den wir gemeinsam verbringen dürften. So hielten wir uns beide in den Armen und weinten nun zusammen. Gemeinsam weinen zu können war in diesem Augenblick wertvoller als das kostbarste Geschenk. Was würde ich darum geben, wenn ich heute mit Sandra weinen könnte.

Lourdes braucht es und seine Existenz ist mehr als berechtigt. Es gibt den Menschen die es wollen mehr als alle irdischen Geschenke. Und wer Lourdes erlebt hat wie ich in diesen Tagen versteht auch das all diese Menschen, ihren Lieben Zuhause unbedingt etwas mitbringen wollen. Es nicht zu können währe für alle, sei es für die Schenkenden wie auch für die Beschenkten ein grosser Verzicht. So machen dann die einen ein Geschäft mit den Bedürfnissen der anderen. Das Tagtägliche auf dieser Welt, ob es sich nun um Lebensmittel, Dienstleistungen oder eben Souvenirs handelt. Nein, Lourdes braucht es und wenn es diesen Ort nicht gäbe müsste man ihn schaffen; Für alle Leidenden, Hoffenden oder Suchenden dieser Welt. Die Sonnenstrahlen über Lourdes haben die Schatten vertrieben. Nun setze ich meine Reise fort und irgendwie habe ich das Gefühl, hier ein klein wenig meiner alten Ruhe und Gelassenheit wieder gefunden zu haben.

Noch etwas wichtiges:

Einige sind nun vielleicht geneigt zu denken: "Bei Curi dreht sich jetzt wahrscheindlich alles nur noch um Glauben und Gott" Erlaubt mir bitte Euch dies zur Antwort zu geben: "Ich wünsche mir nichts so sehr als wieder zum Leben zurückzukehren das ich vor Sandras Krankheit kannte. Wie gerne würde ich wieder mit meinen Lieben schöne Momente erleben, mit Freunden gemütliche Abende verbringen, im Motoclub mitmachen und wieder Freude am Motorradfahren haben, mit Motivation meine Arbeit verrichten. Ja, wie gerne würde ich all das tun was mir vor Jahren so viel bedeutet und auch gegeben hat. In dem kurzen Augenblick wo mir Sandra tränenüberströmt die Diagnose ihres Arztes mitteilte und mir die Tragweite dieser Mitteilung richtig bewusst wurde ist mir aber genau all das was mir so wichtig war, was in unserem Leben immer einen so hohen Stellenwert hatte, wie Sand zwischen den Fingern zerronnen und ein einziges, winziges Sandkorn ist übriggeblieben. Nicht etwa dass Glaube und Gott in unserem Leben keine Rolle gespielt hätten, aber im Verhältniss zu allem anderen vermeintlich Wichtigen nahm er in unserem Alltag tatsächlich nicht mehr Platz ein als ein Körnchen Sand. Und auf einmal war es, so winzig es auch war, das einzige woran wir uns während der Krankheit festhalten konnten. Und auch heute noch ist es das, was mich aufrecht und am Leben hält. Es wird leider mit Bestimmtheit der Tag kommen an welchem ich mich wieder von einem geliebten Menschen verabschieden muss oder Ihr Euch alle von mir. Wenn es soweit ist möchte ich nicht mehr dastehen mit nur einem Sandkorn in der Hand sondern bete, bis dahin einen möglichst grossen Stock in Händen zu halten, an dem ich mich halten, auf den ich mich stützen und den man nicht so schnell verlieren kann. Einen Stock, so stabil und fest, dass sich auch andere die ihn brauchen daran halten und aufrichten können. Dies ist mein grosser Wunsch, auch auf dieser Reise. Wer kann und will den bitte ich von Herzen für mich zu beten, dass es mir gelingen möge.

Curi

 

 
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