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2. Die ersten Tage

Es ist 05.30 Uhr Morgens. Ich liege hellwach im Schlafsack und höre die gefiederten Freunde ihr Morgenlied anstimmen. Dies ist das einzige Geräusch welches auf dem ganzen Zeltplatz zu hören ist. Falsch, von irgendwoher dringt noch ein leises Schnarchen durch die Zeltwand an mein Ohr. Ich drehe mich auf die Seite und versuche nochmals einzuschlafen. Erinnerungen nehmen meinen Geist gefangen und bald schon sehe ich Sandras fröhliches Gesicht, höre ihr herzhaftes Lachen. Nie mehr, fährt mir durch den Kopf, nie mehr werde ich diese geliebte Stimme hören dürfen. Eine zentnerschwere Last legt sich auf meine Brust und macht mir das Atmen schwer. In meinem Innern tobt ein Sturm. Es fühlt sich an, als würden meterhohe Wellen von innen an meinen Körper schlagen und er müsste durch ihre Wucht auseinander brechen. Alles wird durcheinander gewirbelt und von unten nach oben gespült.

Ich drehe mich wieder auf den Rücken, öffne den Reissverschluss und schäle mich aus dem Schlafsack. Noch im Liegen ziehe ich mir die Velokleider an die neben meiner Schlafmatte liege. Mehr hat nicht Platz in meinem 1-Mann Zelt. Den Schlafsack stopfe ich in den Transportsack und die Schlafmatte wird zusammengerollt. Nun verlasse ich das vom nächtlichen Tau durchnässte Zelt. Für die Morgentoilette, nasses Zelt abbrechen, Packen und Aufladen brauche ich keine 20 Minuten und schon verlasse ich den noch in tiefem Schlaf versunkenen Zeltplatz. Ein Blick auf die Karte zeigt mit die Richtung des einzuschlagenden Weges. Wie lange bin ich eigentlich schon unterwegs. Ohne nachzurechnen hätte ich es nicht einmal sagen können. 10 Tage vielleicht oder sind es schon 12. Eigentlich interessiert es mich gar nicht und so lasse ich die bereits angehobenen Hand wieder auf die Lenkstange sinken ohne auf die Uhr zu sehen.

Die Reise verläuft nicht so wie ich es mir gedacht hatte. Im Gegensatz zu meiner Reise nach Santiago vom letzten Jahr wollte ich es diesmal gemütlicher angehen, dem Weg und der Umgebung mehr Aufmerksamkeit schenken. Aber kaum war ich gestartet hatten mich die genau gleichen Gefühle wie vor einem Jahr wieder fest im Griff. Fast war es so, als hätte ich zwischen meiner letzten Reise und Jetzt gerade mal einige Wochen Rast gemacht und setze jetzt meine Fahrt wieder fort. Die Gedanken, die Gefühle, die Rastlosigkeit alles wie gehabt. Nichts hatte sich geändert. So fuhr ich Gedankenversunken Kilometer um Kilometer so schnell meine Konstitution dies zuliess, ich musste, sonst hatte ich keine Ruhe. Erst nach 2 bis 3 Stunden Fahrt konnte ich eine erste Pause einlegen. Meistens wenn ich gerade eine Ortschaft erreichte und eine geöffnete Bar vorfand. Nach einem "Grand Cafe au Lait" das morgendliche Standartgetränk und meistens einer Banane wenn ich welche hatte, ging’s wieder weiter.

Weg und Landschaft nahm ich kaum war und konnten mein Interesse auch nicht wecken, zu fest war ich Gefangener meiner Gedanken und Erinnerungen. All die Fragen, all die Fragen auf die es keine Antworten gibt, und gäbe es welche, könnten sie das Geschehene doch nicht ungeschehen machen. Irgendeinmal am Nachmittag sind meine Kräfte so verbraucht dass ich kaum noch treten kann und trotzdem, der Kopf lässt es immer noch nicht zu anzuhalten. Weiter, es ist noch zu früh, mindestens noch bis zum nächst grösseren Ort. Fast immer sind genau diese letzten 20 Km. zuviel. Und jeden Tag wieder das gleiche, warum?

Völlig ausgepumpt und erschöpft schlage ich mein Zelt auf, esse irgendetwas und krieche in meinen Schlafsack. Noch lange liege ich wach und gehe meinen Gedanken nach, meistens den gleichen wie schon X-mal zuvor. Mit dem Gefühl kaum eingeschlafen zu sein liege ich schon wieder hellwach im Schlafsack. Ich brauche nicht auf die Uhr zu schauen, es ist ungefähr 05.30 Uhr ich weiss es. Eine halbe Stunde später verlasse ich auch diesen Ort. Heute muss ich den "Chemin", wie der Jakobsweg in Frankreich genannt wird verlassen und auf der Strasse weiterfahren denn der mit GR65 bezeichnete Wanderweg führt nicht nach Lourdes sondern weiter in westlicher Richtung. Im Verlauf des Morgens traf ich zum ersten Male auf einen Wegweiser mit der Aufschrift Lourdes. Der Druck auf meiner Brust war heute besonders gross und es gelang mir trotz aller Anstrengung nicht, richtig einzuatmen. Der Kopf forderte: Schneller, fahr schneller, doch der Körper konnte das Geforderte nicht umsetzen. Trotz aller Willenskraft schlich ich mehr dahin als dass ich fuhr und das brachte meine Moral auf so einen Tiefpunkt wie noch nie auf dieser Reise. Am liebsten hätte ich losgeheult. Als ich den Druck in meinem Inneren einfach nicht mehr aushalten konnte wusste ich mir nicht anders zu helfen als urplötzlich loszu schreien. Ich schrie so laut ich konnte. Ich schrie, ich fluchte ich verwünschte mich und alles was mir in den Sinn kam, ich schlug mit den Fäusten auf die Lenkstange und die Lenkertasche, stiess mit den Füssen an die Pedale. Meine Stimme hatte ihren Geist schon lange aufgegeben, trotzdem schrie und fluchte ich weiter bis mir nichts mehr einfiel und kein Atem mehr hatte.

Ich liess das Dorf und wohl einige verdutzt dreinschauende Dorfbewohner hinter mir. Beruhigt hatte ich mich immer noch nicht, aber es fehlte mir einfach die Kraft um weiterzutoben. Etwas ausserhalb des Dorfes sehe ich mitten auf dem Vorplatz einer Kapelle eine auf einem steinernen Sockel stehende lebensgrosse Marienstatue. Während ich daran vorbeifahre macht die Wut der Verzweiflung Platz, einer unsagbaren Verzweiflung. Wie soll das nur weitergehen und geht es überhaupt weiter. In mir kocht und brodelt es und ich habe das Gefühl zerplatzen zu müssen. Jetzt passiert etwas, nur das wusste ich mit Sicherheit. Ich mühe mich ab, den Druck in der Brust zu verringern um endlich wieder Luft zu kriegen. Werde ich jetzt vielleicht Wahnsinnig, denke ich, während ich gleichzeitig den inneren Drang verspüre, umzudrehen. Auf der Strasse wende ich mein Rad und fahre zurück. Im weissen Umhang über Kopf und Körper, den königsblauem Gürtel um den Leib gebunden, die Arme ausgebreitet mit diesem unverkennbaren Gesichtausdruck voller Güte erkenne ich sie, eine lebensgrosse Statue der Madonna von Lourdes. Ich fahre bis dicht neben sie und lege, ohne vom Rad zu steigen meine Hand auf ihren nackten Fuss. Er fühlt sich kühl und obwohl aus Stein trotzdem irgendwie weich an. Ich schliesse die Augen.

Was ist bloss los mit mir, warum quäle ich mich so? Die nächste Frage die sich in meinem Geiste formuliert ist wahrscheindlich auch gleich die Antwort. Will ich etwa durch besondere Leistung mir einen Teil von Sandra zurückverdienen. Und glaube ich, es einfach nicht schön haben zu dürfen, jetzt wo es Sandra doch auch nicht mehr kann. Oder habe ich während Sandras Krankheit etwas ausser Acht gelassen, hätte man ev. noch etwas versuchen können und ich habe in meiner Naivität einfach nicht gewusst was. Könnte Sandra, wenn mir zur richtigen Zeit das Richtige eingefallen währe vielleicht noch Leben.

Ich weiss dass ich mich, nüchtern betrachtet unbegründet quäle und Vorwürfe mache, aber irgendetwas hat sich in meinem Unterbewusstsein festgebissen. Hier und jetzt, mit meiner Hand auf dem nackten Fuss wird mir alles erst richtig bewusst. Jetzt wo mir meine Eigenvorwürfe so klar vor Augen gehalten werden kann ich mit der Zeit vielleicht mit ihnen fertig werden. Ich spüre wie sich ein grosser Knoten in der Gegend des Brustbeins löst und endlich, nach langer, langer Zeit kann ich tief, ganz tief einatmen. Der Sturm in meinem Inneren legt sich und ich erfahre einen tiefen Frieden wie schon lange nicht mehr. Noch bleibe ich eine Weile so stehen, dann nehme ich meine Hand vom Fuss der Madonna und fahre weiter. Wahrscheinlich hat es beides gebraucht, die Entladung und die Besinnung. Jetzt geht es mir etwas besser und ich freue mich auf die bevorstehenden Tage in Lourdes.

 

 
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