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Erkennen!

Ich sitze schon seit dem fruehen Morgen im Gebetshaus des auf halber Hoehe zu einem der Gipfel des Bukhansa Nationalpark liegende Jingwansa Tempel und versuche mit meinen Gedanken klar zu kommen. Es ist das zweite Mal hintereinander dass ich mitten in der Nacht erwache nachdem ich von Sandra geträumt habe. Von Ihr zu träumen ist an und für sich nichts Aussergewöhnliches, denn das tue ich des öftern. Diese beiden Male aber war Ihre ganze Gestalt und vor allem Ihr Gesicht so klar zu sehen und Ihre Stimme so deutlich zu hören wie ich es bisher noch nie erlebt habe. Die ganze Erscheinung war so ungewöhnlich present dass ich danach nicht wirklich mit Bestimmtheit sagen konnte, ob ich denn überhaupt geträumt hatte. Nun sitze ich hier, denke über Ihre Botschaft nach und versuche sie irgendwie einzuordnen.

Meine Gedanken beschaeftigen sich in diesen Stunden aber auch mit dieser immerwaehrenden inneren Unruhe die schon seit langem Besitz von mir ergriffen hat. Warum halte ich es nie laenger als wenige Tage am gleichen Ort aus so schön er auch sein mag und muss weiter und immer weiter reisen. Warum suche ich mir immer die kuerzeste Strecke aus um das mir gesteckte Ziel moeglichst schnell zu erreichen und aergere mich jedesmal wenn ich aus irgend einem Grunde "Zeit verliere". Ich kann es mir immer und immer wieder sagen: "Es gibt keinen Grund zur Eile denn du hast soviel Zeit wie du willst". Es nuetzt nichts. Die Unruhe bleibt, was immer ich mir auch einzureden versuche. Seit ich weiss, dass ich Korea bald verlassen werde, beschaeftigt mich die Frage nach dem neuen Ziel ununterbrochen. Eigentlich spielt es keine Rolle wohin es geht.

Kein Land draengt sich auf oder moechte ich unbedingt besuchen und es gibt nichts, was ich wirklich gerne gesehen haette. Am liebsten verbringe ich die Zeit bei einer Wanderung irgendwo in den Bergen oder in der Stille eines Tempels oder Kirche wo immer das auch ist. Für mich ist je länger und weiter meine Reise dauert, desto mehr die In-mich-Schau wichtiger geworden als die Um-mich-Schau. Die Frage nach dem wirklich Wesentlichen im Leben beschaeftigt mich mehr als all das Interessante, was man sich ansehen oder erleben koennte. So bekunde ich echte Muehe, mir ein neues Ziel auszudenken und ertappe mich hingegen beim Berechnen der Zeit die ich brauchen werde, dieses oder jenes Land zu bereisen. Es sollte nicht zu gross sein damit die Reise nicht zu lange dauert. Vietnam zum Beispiel aber die verlangen ein Visum was wiederum Zeit kostet. Und je laenger ich da sitze desto bewusster wird mir auch, wie sehr ich meine beiden Soehne aber auch meine Mutter und die ganze Familie vermisse.

Ja, ich vermisse sie sogar sehr, und eine seit langem nicht mehr gekannte Empfindung stellt sich plötzlich wieder ein. Gleichzeitig mit Sandras Tod übermannte mich das niederschmetternde Gefühl, nun alles und für immer verloren zu haben. Der Schmerz um ihren Verlust hat mich blind gemacht und ich sah nicht mehr, dass sie mir das kostbarste was sie konnte, ihr eigenes Fleisch und Blut in Patric und Marco hinterlassen hatte. Mir wird in diesen Stunden bewusst, dass ich die Gefuehle die ich vermisse ohne meine Soehne und meiner Familie nie werde finden koennen. Da kann ich Reisen so weit und soviel ich will. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt dass ich mich auf die Suche nach den vermissten Empfindungen machen muesste um sie so schnell wie moeglich wieder zu finden aber mein Bauch wusste von Anfang an dass es mir ohne meine Familie nie würde gelingen koennen.

So draengt er im Unterbewussten weiter und immer weiter um das was sich der Kopf in seiner Blindheit nun einmal vorgenommen hatte so schnell wie moeglich hinter sich zu bringen. Mir wird bewusst, warum ich trotz all den Schoenheiten die ich sehe keine Freude empfinden kann. Ich erkenne, dass kein noch so schoener Pass in Korea, noch so abenteuerlicher Weg in den Pyrenaen alleine gefahren auch nur annaehernd so erfuellend sein kann wie eine Ausflug mit dem Bike in Begleitung meines Sohnes Patric entlang der heimischen Sense. Ich erkenne, dass keine noch so interessante Zoobesichtigung in Madrid noch eine Wanderung durch den schoensten Nationalpark Portugals alleine gegangen auch nur annähernd so beglückend sein kann wie zusammen mit meinem Sohn Marco und Freunden in den Tessiner Taelern Schlangen zu beobachten.

Ich erkenne, dass alle gefuehrten interessanten Gespraeche so fremd die Menschen, so entfernt die Laender auch sein moegen nicht die Spur von dem sein koennen was ein gemeinsam verbrachter Abend, sei es mit Mutter, Brueder, Schwiegereltern, Verwandte oder Freunde mir bisher gegeben haben. Waehrend ich so alleine am Ufer eines Flusses entlangfahre wird mir bewusst wie sehr ich die Biketouren in Begleitung meines Freundes Housi vermisse, da kann die Landschaft noch so schoen sein wie sie will. Ich vermisse es, Patric zu seinen Fussballspielen zu begleiten ebenso wie die stundenlangen Diskussionen mit Marco. Ich vermisse es, mich um Sandras Grab kümmern und es pflegen zu können und ich vermisse all die netten Liebenswuerdigkeiten im Alltag welche mir von Familie, Freunde und Nachbarn stets geschenkt wurden. Ich erkenne, dass ich mit wenig, sehr wenig auskommen und meine Ansprueche auf ein absolutes Minimum zurueckschrauben kann ohne etwas zu vermissen bis auf eines. Meine Familie und meine Freunde. Ohne sie verlieren auch die groessten Schaetze diese Welt all ihren Glanz.

Ich erkenne, dass ich zwar die Einsamkeit liebe und sie sogar brauche, aber leide, wenn ich selber einsam bin. Der Vogel muesste unter Wasser ertrinken und der Fisch an der Luft ersticken. Mir ergeht es aber wie dem Wal oder dem Delphin, ich brauche beides um leben zu können. Und so sitze ich immer noch da, im Gebetshaus des Jingwansa Tempel und weiss jetzt, dass ich dem Ziel meiner Reise ein grosses Stueck naeher gekommen bin. Ich brauche weder Aufgabe noch Sinn meines zukünftigen Lebens irgendwo in der Welt zu suchen denn alles wird sich ergeben wo immer ich mich befinde. So gerne ich auch reise und fremde Länder kennenlerne, nebst auf Sandra deswegen nun auch auf meine Söhne, meine Familie und Euch alle verzichten zu müssen ist mehr als ich ertragen kann. Ich stehe auf und setze den Aufstieg zum Gipfel fort, ganz langsam, Schritt fuer Schritt. Ich habe keine Eile mehr und oben angekommen duenkt es mich, die Sonne habe schon lange nicht mehr so gestrahlt und die Sicht bis zum Horizont sei seit geraumer Zeit nicht mehr so klar gewesen. Ich weiss nun, dass ich Sandras Botschaft in meinen Traeumen verstanden habe. Liebe Sandra, ich bin überzeugt nun auf dem richtige Weg zu sein, meinen inneren Frieden wieder zu finden. So wirst auch Du Dich endlich ebenfalls in Frieden den Aufgaben widmen koennen fuer welche Gott Dich zu sich gerufen hat.

Meine liebste Sandra, hab Dank fuer Deine grosse Geduld.

Dein, Dich ewig liebender Curi

 

 
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