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Cruz de ferro (Kreuz aus Eisen)

Seit ich dem Jakobsweg folge bin ich an hunderten von Kreuzen vorbeigefahren. Kleine, grosse, grobe, zierliche, einfache, reich verzierte, steinerne, hölzerne oder aus Eisen. Jedes von ihnen hätte bestimmt eine Geschichte zu erzählen von dem wem und warum es an dieser Stelle steht. Dem Vorbeikommenden vermitteln sie beim Betrachten immer irgendwelche Eindrücke. Manche ganz oberflächliche, andere tiefere und ganz wenige bewegende und unauslöschliche. Nach der grossen Ebene in welcher auch die Stadt Burgos liegt erreicht der Pilgerweg den Fuss der Kordilleren. Nach einigen kleineren Hügeln folgt der erste richtig beschwerliche Anstieg auf einen grösseren Pass mit einer Höhe von 1'508 m.ü.M.

Der Weg ist sehr steil und führt vielerorts durch dicht nebeneinander wachsende Ginsterbüsche. Sie stehen so nahe beieinander dass du fahren musst, ob du willst oder nicht. Es hat einfach keinen Platz um neben dem Rad herzugehen und es zu stossen. Die Ginsterzweige kämmen dir die Haare und entstauben dir die Kleider. Oftmals hinterlassen sie aber auch rote Striemen auf der Haut. Natürlich gäbe es eine Strasse und einige benützen sie auch, aber der Weg ist nun mal der Weg und nicht die Strasse und ich hatte mir fest vorgenommen den "Camino" zu gehen und wollte an diesem Entschluss festhalten, koste es was es wolle. So kämpfe ich mich Meter um Meter bergwärts.

Plötzlich höre ich ganz nahe vor mir, nur gerade vom nächsten Busch verdeckt eine Frauenstimme in waschechtem schweizerdeutsch "i ma jetz de nümme" Kurze Zeit später sehe ich zwei Frauen die sich mit ihren Fahrrädern ebenfalls durch den Busch quälen. Es liegt mir fern, diese beiden bei der nächsten Gelegenheit zu überholen und hinter mich zu lassen. Im Gegenteil, so gut ich kann mache ich ihnen Mut und helfe wo es geht mit Schieben und Stossen nach. Nach ungefähr einer halben Stunde kreuzt der Weg die Strasse und wir sehen ein Restaurant an der Passtrasse liegen. Wir entscheiden uns gemeinsam, hier eine Rast einzulegen. Barbara und Yvonne heissen die beiden jungen Frauen aus Schaffhausen. Sie machen einen Teil des Jakobsweges aus reiner Abenteuerlust denn mit der Kirche hätten sie nicht viel am Hut. Sie hatten ihren Weg erst vor wenigen Tagen begonnen und wollten sehen, wie weit sie in den 14 Tagen Ihrer Ferien kommen könnten.

Nach der Pause ging es weiter. Die Büsche lichteten sich und so konnte man auch zwischendurch vom Rad und schieben. Total verschwitzt und ausser Atem erreichten wir die Hochebene. Der Weg stieg nicht mehr so steil, so dass man nun auf dem Fahrrad bleiben konnte. Windung um Windung liessen wir hinter uns zurück und plötzlich sahen wir es vor uns. Das "Cruz de Ferro", das Kreuz aus Eisen. Schon in den Anfangszeiten der Pilgerreise hatte irgendjemand hier ein kleines Eisenkreuz hingestellt und niemand weiss warum gerade dieses unter den hunderten wenn nicht tausenden entlang des Weges eine solche Anziehungskraft hat. Bald einmal begannen Pilger Steine als Symbol ihrer Sorgen und Nöte am Fuss dieses Kreuzes hinzulegen. Bald war der Steinhaufen so gross, dass er das Kreuz zu verdecken drohte. So wurde es zuerst auf einen dürren Baumstamm, in einem der letzten Jahren auf einen Teil einer hölzernen Telefonstange befestigt. Obschon längst eine Strasse durchs Tal gebaut wurde und das überfahren des Passes dadurch nicht mehr nötig war, bleiben die Pilger der alten Route treu, denn sie alle wollen an diesen, ja man kann fast sagen "mystischen" Ort.

Und nun lag es vor mir. Ein unglaubliches, schon lange nicht mehr gekanntes Glücksgefühl erfüllte jede Zelle meines Körpers und im gleichen Augenblick wusste ich, dies war das eigentliche Ziel meiner Reise. Hier wollte ich hin, von Anbeginn an. Hier, zu diesem schlichten, einfachen Eisenkreuz das auf einem riesigen Steinhaufen steht. Tausende und abertausende von Steine die die Pilger in hunderten von Jahren hinaufgetragen und vor diesem Kreuz niedergelegt hatten. Wie viel Trauer und Glück. Wie viel Hoffnung und Verzweiflung. Wie viel Dankbarkeit und Wut lag in all diesen Steinen. Und wie viele Tränen hatten diese Steine schon benetzt. Ergriffen stieg ich vom Rad, liess es auf die Erde sinken und blieb stumm vor dem Kreuz stehen.

Die Tränen rannen mir unaufhörlich über die Backen und tropften auf den Boden. Ich weiss gar nicht wie lange ich so gestanden habe als ich mich plötzlich der beiden Frauen erinnerte. Ich schaute mich nach ihnen um. Beide standen sie neben mir. Und sie beteten.

 

 
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