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Lourdes

Die gelbe Jakobsmuschel auf königsblauem Grund. Dies ist der Wegweiser, dem ich seit meiner Abreise von Zuhause aus folge. Auf dem Kirchenplatz in Tafers, wo ich zum ersten Mal auf den Pilgerweg stiess war er noch mit einem kleinen braunen Wegweiser und der Aufschrift "Jakobsweg" gekennzeichnet. In der Stadt Freiburg bin ich dann dem Muschelzeichen das erste mal begegnet und seither ist er mein ständiger Begleiter. Er ist es der mir sagt, dass ich mich auf dem richtigen Weg befinde und wenn er bei einer Abzweigung nicht mehr zu sehen ist heisst es aufgepasst, hier stimmt was nicht. Irgendwo muss ich eine Richtungsänderung verpasst haben. Dann gilt es nichts als zurück und den richtigen "Chemin" aufspühren, denn ansonsten wird es schwierig den Anschluss wieder zu finden. Auch heute folge ich der Muschel. Mal finde ich sie auf einem am Wegrand liegenden Stein aufgemalt, ein andermal auf einer kleinen Metalltafel die an einen Baumstamm genagelt ist. In bewohnten Gegenden auch einmal auf einem Keramikschild, das einer Hausnummer gleich an die Hauswand befestigt wurde. Von den meisten Menschen kaum beachtet führt der so markierte "Jakobsweg" durch alle Länder Europas und teilweise auch darüber hinaus, sei es nun durch Deutschland oder Oesterreich, durch Ungarn oder Polen, aber auch durch Armenien oder Griechenland. Überall leitet eine so markierte Route den Pilger quer durchs Land in Richtung "Santiago de Compostela".

Natürlich wurde der Weg bei seiner Entstehung nach anderen Kriterien angelegt als die Strassen heute. So führt der Weg von einem Dorf zum anderen wobei auch Brunnen oder andere Wasserläufe berücksichtigt wurden. Den Pilgern knurrte nähmlich auch damals schon zwischendurch der Magen und die zum Teil mitgeführten Tiere, meistens Esel oder Pferde welche das Gepäck zu tragen hatten brauchten nebst Futter auch regelmässig Wasser. Je näher man Spanien kommt, desto mehr vereinigen sich diese Wege mit denen aus anderen Länder kommenden und in "Puente la Reina" kommen sämtliche "Caminos" wie sie hier in Spanien jetzt genannt werden letztendlich zusammen. In dieser Stadt liess die damalige Königin den Pilgern eine Brücke über den reissenden Fluss bauen, da dieser bei der Überquerung immer wieder Menschenleben forderte. So erhielt dieser Ort "Puenta la Reina" oder "Brücke der Königin" seinen Namen. Es ist leicht nachvollziebar, dass die Pilgerreise nach Compostela vor allem zu früherer Zeit keine ungefährliche Angelegenheit war. Von der Schweiz aus braucht ein Pilger dazu gute drei Monate. Die unzähligen Kreuze und Gedenksteine entlang des Weges sind stumme Zeugen aber auch Mahnmale dass es nicht immer selbstverständlich ist Santiago zu erreichen, auch heute nicht.

Zum Gedenken an all die Menschen welche die Stadt des Apostels Jakobus nie erreicht haben oder danach nicht mehr nach Hause gekommen sind, aber auch für all jene, die ihr Schicksal auch in Zukunft mit diesen Teilen werden, wurde kurz vor Puente la Reina im kleinen Dorf "Eunate" vor einigen hundet Jahren ein kleines Kirchlein erbaut. Ich habe mich lange in diesem wie eine Kuppel gebauten Gotteshaus aufgehalten. Es herrschte dort eine ungewöhnlich friedliche und besinnliche Atmosphäre und war einer der Orte wo ich nach einer gewissen Weile der Stille Sandras Anwesenheit ganz deutlich spüren konnte. Ich fühlte fast greifbar wie Sandra neben mir sass und ihren Kopf zart auf meine Schulter legte. Noch lange hätte ich so verweilen wollen aber ich wusste nur allzu gut, dass ich diese Reise ob ich wollte oder nicht nun alleine fortsetzen musste. So lange ich Lebe wird aber der Wunsch bleiben, nicht das letzte mal an diesem geweihten Ort gesessen zu sein. Nun, auch heute war ich schon den ganzen Tag den Muschelzeichen gefolgt welche mich zwischen grossflächig angebauten Mais- und Weizenfeldern führte.

Dazwischen, sozusagen als kleine Abwechslung Grasflächen, wo Mutterkühe mit ihrem säugendem Nachwuchs oder Stuten mit von lebensfreude ungestüm umhergaloppierenden Fohlen, weideten. Es war ein eher langweiliges Landschaftsbild und so war ich froh, im Tal die Dächer einer grösseren Ortschaft auszumachen. Der Tag neigte sich langsam seinem Ende entgegen und so wollte ich mich nach einer Übernachtungsmöglichkeit umsehen. Der Muschel weiter folgend fuhr ich durch die ersten, engen Gässchen über den mit Flussteinen gepflasterten Kirchenplatz in eine weitere Nebengasse. Schon von weitem drangen bekannte Laute an mein Ohr. Je näher ich kam, desto deutlicher erkannte ich, dass hier deutsch gesprochen wurde. Nach der nächsten Abzweigung sah ich dann vier Damen älteren Jahrganges die vor einem Haus auf der Trottoirkante sassen, den Rücken an den abgelegten Rücksäcke angelehnt. Während die eine seiner Kollegin den Nacken massierte, knetete die andere ganz intensiv ihre scheinbar schmerzenden Füsse. Die dritte klebte sich gerade ein Pflaster an die Ferse und die vierte war damit beschäftigt, ihrem Tagebuch die Erlebnisse des vergangenen Tages anzuvertrauen. Ich habe festgestellt, dass das führen eines Tagebuches ein wichtiges Ritual für viele Pilger ist. Wo immer Zeit ist, wird dieses zum Teil recht kostbare Büchlein mit Ledereinband, eingestanzter Jakobsmuschel und handgeschöpften Papierseiten hervorgeholt und beschrieben. Überhaupt legen viele Pilger einen grossen Wert darauf, als solche auch erkannt zu werden.

Zu diesem Zweck führen sie die diversen Utensilien wie der speziell geformte, hölzerne Wanderstock, die angehängte Jakobsmuschel oder sonst irgend ein Abzeichen von welchem es in jeder Form und Grösse überall zu kaufen gibt, mit und haben für viele dieser Pilger eine ganz wichtige Bedeutung. Ich selbst habe mit diesen "echten" oder "richtigen" Pilger so meine liebe Mühe, aber davon vielleicht später. Neben diesen, wie ich später erfuhr aus Feldkirch am Bodensee kommenden Freundinnen sassen zwei Männer die sich angeregt in einem französisch-deutsch-englischem Wortgemisch zu verständigen versuchten. Klaus aus Friedrichshafen erklärte gerade Michael aus dem englisch sprechenden Teil Kanadas, dass die Wirtin des "Refugio des Pellegrinos" auf deutsch "Pilgerherberge" in einer Viertelstunde kommen werde um die Türe aufzuschliessen und die Betten zu verteilen. Es sei ein kleines "Refugio" und habe nur 7 Schlafplätze. Somit waren die Betten mit uns 7 hier Anwesenden belegt.

Ich war mir auch ziemlich sicher, dass kein weiterer Pilger noch eintreffen werde, hatte ich doch in der letzten Stunde auf dem "Chemin" niemanden mehr angetroffen resp. überholt. Eine halbe Stunde später hatten wir alle unsere Betten erhalten und die Schlafsäcke ausgerollt. Es gab einen Schlafraum mit 7 Betten, eine kleine, mit einem Gasherd, einem Esstisch und etwas Geschirr eingerichtete Küche, eine Toilette mit Waschbecken und eine Douche für 2 Personen. Schnell einigten wir uns, dass die Frauen zuerst duschen konnten während wir Männer dafür zuerst das Lavabo für das Waschen der durchschwitzten Kleider benutzen konnten. Das von Hand waschen der Kleider ist auch etwas, was ich neu auf dieser Reise habe lernen müssen. Ob ich es richtig mache weiss ich übrigens noch heute nicht, jedenfalls riecht die Wäsche am morgen immer angenehm nach frischem Waschpulver.

Nachdem alle geduscht und sich eingerichtet hatten, ging es in die Küche. Unser deutscher Freund Klaus nahm denn hier auch gleich das Zepter in die Hand und alle kramten aus ihren Rücksäcken an Essbarem hervor was sie oder er finden konnte und legten es auf den Tisch. So fanden sich bald angeschnittene Brotstücke in jeder grösse und Art, drei Beutel Fertigsuppe, einige Teebeutel, zwei kleine Päckchen Teigwaren, eine Büchse mit Linsen und Würstchen, eine Büchse mit weissen Bohnen und wieder Würtschen, einige Scheiben Speck, 1 Stück Käse, 6 Bananen, 1 grüne Peperoni, zwei Äpfel und einige Portionen Konfitüre. Klaus teilte soffort alles in zwei Hälften. Etwas Brot, die Bananen, der Käse, die Hälfte der Teebeutel und die Konfitüre für das Morgenessen und alles andere fürs Nachtessen. Dann holte er eine Bratpfanne und einen grossen Topf hervor. In der Bratpfanne briet er der Speck während im Topf die Teigwaren gekocht wurden. Dann wurden die gekochten Teigwaren abgetropft und die Suppen samt Linsen, weissen Bohnen und Würstchen im Topf aufgekocht, dazu kam dann der gebratene Speck und zuletzt die gekochten Teigwaren und schon bald stand eine grosse Pfanne mit dem besten Eintopfgericht das ich je gegessen habe dampfend und duftend mitten auf dem Tisch.

Während dem Essen erzählten uns die Frauen, sie seinen mit dem Zug nach Le Puy gereist, wo sie ihre Pilgerreise begonnen haben und würden in den nächsten drei Wochen bis zur spanischen Grenze marschieren. Von dort aus ginge es dann per Zug wieder nach Hause um ihren Weg im nächsten Jahr dort fortzusetzen wo sie ihr dieses Jahr aus Zeitmangel beenden müssten. Klaus hingegen erzählte uns, habe den "Camino", also den spanischen Teil bereits gemacht und dieses Jahr marschiere er noch den französischen um dann in einem anderen Jahr mit dem deutschen Teil abzuschliessen. Michael war mit seiner Frau aus Kanada nach Paris, wo ihr Sohn lebt und arbeitet geflogen und mit dem Zug nach Le Puy weitergereist. Auch sie hätten dort mit ihrem Pilgerweg begonnen.

Seine Frau habe sich aber bereits am dritten Tag den Knöchel verstaucht, so dass sie ihr Sohn nach Paris hat zurückholen müssen. Wie weit er selbst noch laufen werde wisse er zur Zeit noch nicht. Ich habe auf meinem Weg die verschiedensten Menschen angetroffen wie zum Beispiel ein junge, vielleicht 25 jährige Belgierin die bereits seit eineinhalb Monate ganz allein mit ihrem Pony unterwegs war und von Zuhause aus bis nach Santiago durchlaufen wollte. Geschlafen hat sie in einem Zelt wo es gerade ging. Ich habe Pilger mit Esel, Maulesel oder Pferd auf dem Weg überholt. Ich traf junge, kraftstrotzende Menschen in flottem Schritt, aber auch von den Strapazen gezeichnete Pilger mit eingebundenen Knien oder Oberschenkel, die Füsse voller Pflaster und von der Sonne verbrannte Arme oder Nacken angetroffen welche sich mehr vorwärtsschleppten als marschierten. Oftmals war ich stiller Zuhörer vieler Geschichten.

Lustiger, spannender, tragischer, trauriger oder bewegender Schicksale. So verschieden diese Pilger waren so hatten doch die meisten eines gemeinsam. Alle suchten sie etwas, aber die wenigsten wussten was und einige fanden es ohne zu wissen das es das war, wonach sie eigentlich die ganze Zeit gesucht hatten. Die meisten hatten aber auch das Bedürfniss zu reden, zu erzählen, den Druck auf ihrer Brust loszuwerden und ihr Schicksal mit anderen teilen zu können. Sie brauchten jemanden, der ihnen zuhört und ich tat es gerne. So habe ich viel gehört und noch mehr gelernt und mir hat es gut getan zu spüren, dass ich nur ein Leidender unter vielen Leidenden war. Ich glaube fast, dass es diese Geschichten waren die viel dazu beigetragen haben, mein Schicksal nun besser ertragen zu können. Das Essen, so gut es auch war, war bald beendet und nun galt es noch das Geschirr abzuwaschen und die Küche aufzuräumen. Nach der Abendtoilette packte ich, wie in der Zwischenzeit gewohnt den Rucksack, um am Morgen startklar zu sein. Während ich im Schlafsack liegend noch meinen Gedanken nachging ertönte aus der Ecke der Frauen ein feines säuseln das man auch als leises "Schnärcheln" benennen konnte.

Ich musste lächeln und versuchte zu erraten, welche der Frauen die Quelle dieser Geräusche war. Ich hatte die genaue Lage noch nicht orten können so setzte ein zweites, wie soll ich es nennen, also säuseln auf jedenfall nicht, dafür war der Grundton viel zu markant. Hier glaubte ich die Verursacherin mit der korpulenteren der vier Damen identifizieren zu können. Na, da wird mir ja ein schönes Schlafliedchen vorgesungen. Langsam hatte ich mich an den Rythmus gewöhnt und ich fing an schläfrig zu werden als aus der entgegengesetzten Ecke, dort schlief Michael ein weiterer "Sager" einsetzte. In kräftigen Stössen, einem kanadischen Holzfäller gleich zog er an seiner Säge. Ich glaube ich stand schon nach kurzer Zeit knöcheltief im Sägemehl. Aber die Krönung des ganzen Konzertes sollte noch kommen als nun noch Klaus seinen Einsatz hatte. Ich weiss beim besten Willen nicht, wie ich die Laute beschreiben kann welche seiner Kehle entrannen. Jedenfalls wurde mir um seine Stimmbänder Angst und Bange. Der musste ja jeden Morgen mit Heiserkeit erwachen bei solch einer Beanspruchung. Also mit "Schäfchenzählen" zum Einschlafen war da nichts, das wusste ich inzwischen aus Erfahrung.

So holte ich mir aus dem Rucksach ein Papiertaschentuch und rollte mir daraus zwei Ohrpfropfen. Zusätzlich stülpte ich mir die Rucksackkaputze über den Kopf und obendrauf noch das Kopfkissen. Nicht nur, dass dem Konzert mit nichts beizukommen war, nein ich drohte auch noch an einem Hitzeschlag zu erliegen. Eine volle Stunde lang versuchte ich mit allen Mitteln einzuschlafen. Vergebens. Da es keine andere Ausweichmöglichkeit gab als die Flucht, zog ich mich an, packte meinen Rucksack und stieg auf mein Rad. Da der Himmel klar und voller funkelnder Sterne war, konnte man die Strasse recht gut sehen. So verliess ich den Ort und schlug die Strasse Richtung Lourdes ein. Zum ersten Mal seit Tafers konnte ich den Markierungen des "Chemin" nicht Folgen.

Die Strasse nach Lourdes lag nicht am Pilgerweg und bereits nach kurzer Zeit kam ich mir irgendwie einsam und verlassen vor. Eigenartig, ich bemerkte plötzlich, wie ich die gelbe Muschel zu vermissen begann. Sie gab einem das Gefühl als würde dich ein Freund bei der Hand nehmen und sagen: "Komm und folge mir, ich bringe dich sicher ans gewünschte Ziel". Nach einiger Zeit viel mir auf, wie lautlos sich mein Rad auf dem kühlen Asphalt fortbewegte. Auch fuhr es sich bedeutend leichter als auf den Naturpfaden, die ich bis jetzt befahren hatte. Um die Kraft optimal auszunutzen versuchte ich meinen Tritt möglichst rund zu halten. Nach unten Treten, nach hinten und dann nach oben ziehen, nach vorne stossen und wieder nach unten treten.

Links, rechts, links, rechts. Immer automatischer wurden die Bewegungen und Kilometer um Kilometer rollten unter meinen Reifen durch und blieben hinter mir zurück. Langsam verloren sich meine Gedanken in die Vergangenheit. Bilder vergangener Zeiten tauchten in meinem Geiste auf und schwebten Wolkengleich an mir vorbei. So bemerkte ich weder das Erwachen des Tages noch die Müdigkeit der durchgefahrenen Nacht. In Gedanken fuhr ich mit dem Motorrad zusammen mit meinen Freunden auf Lourdes zu. Im Seitenwagen erwartungsvoll lächelnd Sandra, die sich auf den Besuch dieses besonderen Ortes schon lange freute. In nicht weiter Ferne sah ich den an die Bergflanke angelehnten Hügel in Form eines halben Konus, die Spitze nach oben gerichtet welcher die Nähe Lourdes ankündet lange bevor man die Stadt sieht. Nicht nur die Form fällt auf, sondern auch das ganz besondere Grün, welches sich deutlich von den übrigen Grasflächen oder dem Laub der Büsche und Bäume abhebt. Mein Blick auf diesen Hügel gerichtet bemerkte ich überrascht, dass ich nicht auf dem Motorrad sondern auf dem Fahrrad sass, neben mir nicht der Seitenwagen und keine Sandra sondern nur der lehre Gehsteig eines Vorortes meines angestrebten Ziel der heutigen Fahrt.

Noch während ich langsam von der Vergangenheit zur Wirklichkeit zurückkehrte passierte ich die Stadtgrenze. Ich war in Lourdes angekommen. Während ich die Ortstafel durchfuhr bewegte sich meine Hand wie von selbst zum Helm. Ja, die Feder war noch da.

 

 
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