unterwegs.pedrazzoli.com
Startseite Warum? Berichte Fotoalbum Gästebuch Kontakt
Zurück zur Übersicht

Zeichen vergangener Zeit

Es ist schön ganz früh am Morgen loszufahren und mitzuerleben, wie der Tag langsam erwacht. Noch ist es dunkel und die ersten Vögel fangen bereits an ihr Morgenlied anzustimmen. Je heller es wird desto mehr gesellen sich dazu. Und ebenso wunderbar ist es abends der untergehenden Sonne nachzufahren und sie letztendlich am Horizont verschwinden zu sehen. Die Regenfälle der Nacht haben die Wege in kleine Bäche verwandelt. Ich ziehe es vor, die Regenschuhe überzuziehen um nicht den Rest des Tages mit nassen Schuhen fahren zu müssen und rolle den "Chemin" wie er hier genannt wird halb im Wasser und wo es geht an der Wegflanke die trockener ist, talwärts. Ich bin froh, ein gutes Fahrrad bei mir zu haben denn die Gabel und auch das Federbein müssen zeitweise ganz herbe Schläge wegstecken.

Immer steiler und schneller geht es bergab. Der Weg wird trockener, erdig und es hat keine Steine mehr. Meine Reifen rollen nun fast geräuschlos über den von tausenden von Pilgern festgetretenen Waldboden. Fast habe ich das Gefühl zu fliegen. Unmittelbar vor mir taucht plötzlich ein Fuchs auf. Das Beutetier in der Schnauze steht er mitten auf dem Weg. Zum bremsen ist es zu spät. Mit einem Schwänker zur Seite versuche ich ihm auszuweichen. Zum Glück wählt er zur Flucht die andere Seite. So kommen wir beide mit dem Schrecken davon und sind froh, dass keiner vom anderen etwas gewollt hat. Langsam geht die Sonne auf. Die wärmenden Sonnenstrahlen fangen an, die Feuchtigkeit vom Boden und der Pflanzen verdunsten zu lassen die sich wie hauchzarte Nebelschwaden zwischen Bäume und Büsche ausbreiten. Es entsteht eine eigentümliche, ja fast feierliche Stimmung. Jetzt müsste nur noch ein Einhorn auftauchen, denke ich für mich, und ich würde glauben, ich hätte mich in ein Märchen verirrt. Nun führt der Weg durch offenes Gelände.

Es wird hügelig. Der Fusspfad geht in einen Feldweg über, der sanft eine Anhöhe ansteigt. Nun, da der Schatten der Bäume ausbleibt, spüre ich die wärmenden Sonnenstrahlen in meinem Nacken. Hühner, geht mir durch den Kopf, hier riecht es doch nach Hühner. In Gedanken versunken hatte ich nicht bemerkt, dass ich an einem Bauerhof vorbeifuhr. Ich schaue mich um. Nirgends konnte ich Hühner entdecken. Doch nun höre ich hinter der Hecke einen Hahn mit krächzender Stimme den Tag ankünden. Du bist spät dran mein alter,denke ich bei mir. Mein Geruchsinn hatte mich nicht getäuscht. Im Gegensatz zu den vorangegangenen kühlen Tagen hatte die wärmende Sonne eine Vielzahl von Gerüchen so intensiviert, dass sie, obwohl in Gedanken versunken, sogar von meiner Nase beachtet wurden. Während der Weiterfahrt versuchte ich mich mehr auf die in der Luft liegenden Gerüche zu achten. Bald roch es süsslich nach blühenden Ginsterblüten bald modrig nach faulendem Holz. Neben einer im Schatten von Bäumen liegenden Weide lag ganz deutlich der Geruch von frischen Champignon, zwischen den gelben Kalksteinenfelsen den von würzig blühendem Thymian in der Luft. Ich versuchte die Gerüche zu benennen, ohne hinzusehen. Frisch geschnittenes Gras, am Wegrand liegende Baumstämme, in blühte stehendes Grasland, aufgetürmte Strohballen, frisch gepflügte Ackerflächen.

Man konnte tatsächlich sehen, ohne die Augen zu benutzen. Der Weg mündete nun auf eine Teerstrasse der ich einige Kilometer folgen musste bevor er links wieder in ein Waldstück einbog. Ein Auto überholte mich, im Schlepptau eine feine Wolke zart duftendem Parfüm. Die Fahrerin hatte wohl das Fenster offen gehabt. Kein Zweifel, dieser Duft konnte nur zu einer Frau gehören. Wie mochte sie aussehen. Zu was für einem Typ Frau konnte dieser Duft wohl am besten passen. Hätte Sandra ev. auch ein solches Parfüm gewählt. Meine Gedanken schweifen ab in die Vergangenheit und verpasse prompt den Einstieg in den Fussweg. Ich bemerke es erst einige Kilometer weiter. So wende ich das Rad und fahre die Strasse zurück. „Chäferli, ich weiss was Du mir jetzt sagst, auch ohne Deine Stimme zu hören“. Der "Chemin" ist klar gekennzeichnet. Ein weisser und ein roter Strich übereinander an einem Pfosten, darüber das blaue Zeichen mit der Jakobsmuschel, die schmale Seite in Fahrtrichtung zeigend. Wenige Kurven auf dem Pfad und von der Strasse ist nichts mehr zu sehen.

Bergeichen, von Wind und Wetter gezeichnet, säumen den Weg. Links und rechts deutliche Spuren wühlender Wildschweine. Links von mir beginnt sich das Gelände langsam an zu senken. Ich fahre rechts einer Bergflanke entlang. Von irgendwo aus der Talsohle unter mir dringt das Rauschen fliessenden Wassers an mein Ohr. Dort unten muss sich einen Bach oder Fluss seinen eigenen "Chemin" angelegt haben. Es sind mittlerweilen über fünf Stunden vergangen, seit ich von der Strasse abgebogen bin und damit sämtliche Anzeichen menschlicher Zivilisation aus den Augen verloren habe. Auf und ab, immer der Bergflanke entlang führt meine Fahrt. Wieder einmal neigt sich der Weg talwärts. Quer zur Fahrtrichtung verlaufende dicke Baumwurzeln machen die Fahrt unruhig. Immer steiler führt der Weg nach unten und immer schneller springen meine Räder über die freiliegenden Wurzelansätze. Unerwartet plötzlich fällt der Weg steil Richtung Tal. Einer natürlichen Treppe gleich reiht sich Wurzel an Wurzel und überbrückt so einen gewaltigen Höhenunterschied. Mein Vorderrad ist bereits über die erste Stufe gesprungen und ich bin zu schnell, als dass ich noch hätte anhalten können. Finger weg von der Vorderbremse und acht geben, dass das Vorderrad über die nächsten Wurzel kommt und nicht davor stecken bleibt, sonst ist ein prima Salto vorwärts mit Velo und Rucksack fällig. Ich strecke meinen Allerwertesten so weit wie möglich nach hinten und verlagere damit mein ganzes Gewicht so gut wie möglich aufs Hinterrad, und lass es geschehen. Ich hüpfe in rasender Geschwindigkeit Stufe um Stufe dem rauschen des Wassers entgegen, gänzlich unfähig in das Geschen einzugreifen. Es reicht nicht einmal mehr aus, ein Stossgebet gegen Himmel zu schicken. So unerwartet die erste Stufe kam, so plötzlich übersprang das Vorderrad das letzte Hindernis, gerade in dem Augenblick als ich glaubte, ich hätte keine Kraft mehr meinen Lenker zu halten.

Ausgepumpt, mit rasendem Herzen und zitternden Knien halte ich am Ufer eines gemütlich vor sich hinplätschernden Bergbaches an. Nun ist es Zeit für das Stossgebet und meinem Schutzengel zu danken. Danke Spatzimausi! Ich brauche einige Zeit mich vom Schrecken zu erholen bevor ich die Fahrt fortsetzen kann. Den Magen beruhige ich zudem mit einer Banane und einem Kraftriegel. Der Weg führt nun den Bach entlang. Es ist mittlerweilen früher Nachmittag geworden und im Schatten der Bäume ist es angenehm kühl. Seidenfäden gleich dringen einige Sonnenstrahlen durchs Blätterdach und treffen irgendwo auf den Waldboden. Dort wo sie eine blühende Waldblume bescheint, erstrahlt diese in besonders schönem Glanz als wollte sie sich für die Wohltat dieses wärmenden Lichtes bedanken. Ich schaue mich um und sehe nichts, was sich nicht auf wundervolle Weise in das Bild dieses Ort einfügen würde. Vermeintlich planlos herumliegende dürre Aststücke gehören genauso zum harmonischen Gesamtbild dieser einzigartigen Schöpfung wie das zartgrüne Farnblatt das eben im Begriff ist, sich himmelwärts auszurollen. Ehrfurcht durchdringt meinen Körper und meine Seele.

Der Schöpfer hat auf einem einzigen Quadratmeter dieses Waldbodens mehr an Harmonie und Perfektion geschaffen als die Menschheit mit all ihrem Wissen und allem Geld in einem ganzen Leben nicht annährend erreichen könnte. Und wir, wir Menschen gehören dazu, sind Teil dieser Schöpfung auch wenn wir sie allzu oft mit Füssen treten. Gott hat einmal zu seinen Anhängern gesagt. Wer Augen hat zu sehen, der sehe. Und ich denke bei mir. Du musst dir Mühe geben, den Blick von innen wieder nach aussen zu richten. Die Schöpfung dieser Erde hat es verdient be- und geachtet zu werden. Noch brauche ich Zeit, aber meine Reise nach Compostela und der nahende Aufenthalt in Lourdes werden mir sicher dabei helfen. Andächtig fahre ich weiter und allmählich entfernt sich der Bach von meinem Weg. Das Tal wird breiter, der Wald lichter. Zuerst stehen einzelne Stechpalmen verstreut zwischen den noch verbleibenden Bäumen. Dann werden es immer mehr um letztendlich einen wahrhaftigen Wald aus lauter Stechpalmen zu bilden. Dazwischen wächst fast mannshoher Farn. So etwas hatte ich bisher noch nie gesehen, einen richtigen Stechpalmenwald. Es geht leicht bergab und meine Fahrt bekommt ein forsches Tempo was immer einen Vor- und auch einen Nachteil hat.

Man kommt flott voran, bekommt von der Gegend aber nicht mehr viel mit, da man sich bei diesem Tempo auf den Weg konzentrieren muss. Zu gut war mir die höllische Abfahrt über die Wurzeltreppe noch in Erinnerung. Und ich tat gut daran, denn kurz nach einer Biegung lag ein wahrscheinlich vom Sturm gefällter Baumstamm mitten auf dem Weg. Ich bremste und stieg ab. Noch während ich mein Fahrrad über den Baumstamm hob viel mein Blick an den Wegrand. Mir stockte der Atem und Tränen schossen in meine Augen. Hier lag sie, fein säuberlich über die Zweige einer Stachelpalme hingelegt, so dass ich sie einfach sehen musste, die wunderschöne Feder aus der Schwinge eines Raubvogels. Eine gleiche Feder hatte ich von meinem Fahrradhelm abgenommen, Zeichen meiner glücklichsten, aber vergangenen Zeit und sie vor meiner Abfahrt in Sandras Grab gelegt. Dort hatte ich bevor ich losfuhr Sandra gebeten, mir unterwegs eine neue Feder zu schenken als Zeichen einer neuen, unbestimmten Zeit die ich nun ohne sie bestreiten sollte. Ich wusste ich würde sie erkennen. Nicht eine jener unzähligen Federn die ich im Strassengraben oder irgendwo im Feld draussen liegen sah, Federn von Krähen, Hühner, Tauben etc. Nein, es würde etwas besonderes sein, das wusste ich. Und hier lag sie nun, am einzigen Ort wo ich zwangsläufig vom Rad steigen musste, säuberlich hingelegt dass ich sie nicht übersehen konnte und es war eine ganz neue, saubere und makellose Feder und ich erkannte sie sofort. Das war sie, Sandras Feder.

Und während ich ihr von ganzem Herzen dankte und die Feder an meinen Helm steckte spürte ich, dass ich mich den Herausforderungen einer neuen Zeit stellen will und muss. Denn dies, davon bin ich überzeugt, währe auch Sandras Wille.

 

 
 Seitenanfang © 2004 Pedrazzoli, CH-Oberwangen