Zeichen vergangener Zeit
Es ist schön ganz früh am Morgen loszufahren und
mitzuerleben, wie der Tag langsam erwacht. Noch ist
es dunkel und die ersten Vögel fangen bereits an ihr
Morgenlied anzustimmen. Je heller es wird desto mehr
gesellen sich dazu. Und ebenso wunderbar ist es abends
der untergehenden Sonne nachzufahren und sie letztendlich
am Horizont verschwinden zu sehen. Die Regenfälle
der Nacht haben die Wege in kleine Bäche verwandelt.
Ich ziehe es vor, die Regenschuhe überzuziehen um
nicht den Rest des Tages mit nassen Schuhen fahren
zu müssen und rolle den "Chemin" wie er hier genannt
wird halb im Wasser und wo es geht an der Wegflanke
die trockener ist, talwärts. Ich bin froh, ein gutes
Fahrrad bei mir zu haben denn die Gabel und auch das
Federbein müssen zeitweise ganz herbe Schläge wegstecken.
Immer steiler und schneller geht es bergab. Der
Weg wird trockener, erdig und es hat keine Steine
mehr. Meine Reifen rollen nun fast geräuschlos über
den von tausenden von Pilgern festgetretenen Waldboden.
Fast habe ich das Gefühl zu fliegen. Unmittelbar vor
mir taucht plötzlich ein Fuchs auf. Das Beutetier
in der Schnauze steht er mitten auf dem Weg. Zum bremsen
ist es zu spät. Mit einem Schwänker zur Seite versuche
ich ihm auszuweichen. Zum Glück wählt er zur Flucht
die andere Seite. So kommen wir beide mit dem Schrecken
davon und sind froh, dass keiner vom anderen etwas
gewollt hat. Langsam geht die Sonne auf. Die wärmenden
Sonnenstrahlen fangen an, die Feuchtigkeit vom Boden
und der Pflanzen verdunsten zu lassen die sich wie
hauchzarte Nebelschwaden zwischen Bäume und Büsche
ausbreiten. Es entsteht eine eigentümliche, ja fast
feierliche Stimmung. Jetzt müsste nur noch ein Einhorn
auftauchen, denke ich für mich, und ich würde glauben,
ich hätte mich in ein Märchen verirrt. Nun führt der
Weg durch offenes Gelände.
Es wird hügelig. Der Fusspfad geht in einen Feldweg
über, der sanft eine Anhöhe ansteigt. Nun, da der
Schatten der Bäume ausbleibt, spüre ich die wärmenden
Sonnenstrahlen in meinem Nacken. Hühner, geht mir
durch den Kopf, hier riecht es doch nach Hühner. In
Gedanken versunken hatte ich nicht bemerkt, dass ich
an einem Bauerhof vorbeifuhr. Ich schaue mich um.
Nirgends konnte ich Hühner entdecken. Doch nun höre
ich hinter der Hecke einen Hahn mit krächzender Stimme
den Tag ankünden. Du bist spät dran mein alter,denke
ich bei mir. Mein Geruchsinn hatte mich nicht getäuscht.
Im Gegensatz zu den vorangegangenen kühlen Tagen hatte
die wärmende Sonne eine Vielzahl von Gerüchen so intensiviert,
dass sie, obwohl in Gedanken versunken, sogar von
meiner Nase beachtet wurden. Während der Weiterfahrt
versuchte ich mich mehr auf die in der Luft liegenden
Gerüche zu achten. Bald roch es süsslich nach blühenden
Ginsterblüten bald modrig nach faulendem Holz. Neben
einer im Schatten von Bäumen liegenden Weide lag ganz
deutlich der Geruch von frischen Champignon, zwischen
den gelben Kalksteinenfelsen den von würzig blühendem
Thymian in der Luft. Ich versuchte die Gerüche zu
benennen, ohne hinzusehen. Frisch geschnittenes Gras,
am Wegrand liegende Baumstämme, in blühte stehendes
Grasland, aufgetürmte Strohballen, frisch gepflügte
Ackerflächen.
Man konnte tatsächlich sehen, ohne die Augen zu benutzen.
Der Weg mündete nun auf eine Teerstrasse der ich einige
Kilometer folgen musste bevor er links wieder in ein
Waldstück einbog. Ein Auto überholte mich, im Schlepptau
eine feine Wolke zart duftendem Parfüm. Die Fahrerin
hatte wohl das Fenster offen gehabt. Kein Zweifel,
dieser Duft konnte nur zu einer Frau gehören. Wie
mochte sie aussehen. Zu was für einem Typ Frau konnte
dieser Duft wohl am besten passen. Hätte Sandra ev.
auch ein solches Parfüm gewählt. Meine Gedanken schweifen
ab in die Vergangenheit und verpasse prompt den Einstieg
in den Fussweg. Ich bemerke es erst einige Kilometer
weiter. So wende ich das Rad und fahre die Strasse
zurück. „Chäferli, ich weiss was Du mir jetzt sagst,
auch ohne Deine Stimme zu hören“. Der "Chemin" ist
klar gekennzeichnet. Ein weisser und ein roter Strich
übereinander an einem Pfosten, darüber das blaue Zeichen
mit der Jakobsmuschel, die schmale Seite in Fahrtrichtung
zeigend. Wenige Kurven auf dem Pfad und von der Strasse
ist nichts mehr zu sehen.
Bergeichen, von Wind und Wetter gezeichnet, säumen
den Weg. Links und rechts deutliche Spuren wühlender
Wildschweine. Links von mir beginnt sich das Gelände
langsam an zu senken. Ich fahre rechts einer Bergflanke
entlang. Von irgendwo aus der Talsohle unter mir dringt
das Rauschen fliessenden Wassers an mein Ohr. Dort
unten muss sich einen Bach oder Fluss seinen eigenen
"Chemin" angelegt haben. Es sind mittlerweilen über
fünf Stunden vergangen, seit ich von der Strasse abgebogen
bin und damit sämtliche Anzeichen menschlicher Zivilisation
aus den Augen verloren habe. Auf und ab, immer der
Bergflanke entlang führt meine Fahrt. Wieder einmal
neigt sich der Weg talwärts. Quer zur Fahrtrichtung
verlaufende dicke Baumwurzeln machen die Fahrt unruhig.
Immer steiler führt der Weg nach unten und immer schneller
springen meine Räder über die freiliegenden Wurzelansätze.
Unerwartet plötzlich fällt der Weg steil Richtung
Tal. Einer natürlichen Treppe gleich reiht sich Wurzel
an Wurzel und überbrückt so einen gewaltigen Höhenunterschied.
Mein Vorderrad ist bereits über die erste Stufe gesprungen
und ich bin zu schnell, als dass ich noch hätte anhalten
können. Finger weg von der Vorderbremse und acht geben,
dass das Vorderrad über die nächsten Wurzel kommt
und nicht davor stecken bleibt, sonst ist ein prima
Salto vorwärts mit Velo und Rucksack fällig. Ich strecke
meinen Allerwertesten so weit wie möglich nach hinten
und verlagere damit mein ganzes Gewicht so gut wie
möglich aufs Hinterrad, und lass es geschehen. Ich
hüpfe in rasender Geschwindigkeit Stufe um Stufe dem
rauschen des Wassers entgegen, gänzlich unfähig in
das Geschen einzugreifen. Es reicht nicht einmal mehr
aus, ein Stossgebet gegen Himmel zu schicken. So unerwartet
die erste Stufe kam, so plötzlich übersprang das Vorderrad
das letzte Hindernis, gerade in dem Augenblick als
ich glaubte, ich hätte keine Kraft mehr meinen Lenker
zu halten.
Ausgepumpt, mit rasendem Herzen und zitternden Knien
halte ich am Ufer eines gemütlich vor sich hinplätschernden
Bergbaches an. Nun ist es Zeit für das Stossgebet
und meinem Schutzengel zu danken. Danke Spatzimausi!
Ich brauche einige Zeit mich vom Schrecken zu erholen
bevor ich die Fahrt fortsetzen kann. Den Magen beruhige
ich zudem mit einer Banane und einem Kraftriegel.
Der Weg führt nun den Bach entlang. Es ist mittlerweilen
früher Nachmittag geworden und im Schatten der Bäume
ist es angenehm kühl. Seidenfäden gleich dringen einige
Sonnenstrahlen durchs Blätterdach und treffen irgendwo
auf den Waldboden. Dort wo sie eine blühende Waldblume
bescheint, erstrahlt diese in besonders schönem Glanz
als wollte sie sich für die Wohltat dieses wärmenden
Lichtes bedanken. Ich schaue mich um und sehe nichts,
was sich nicht auf wundervolle Weise in das Bild dieses
Ort einfügen würde. Vermeintlich planlos herumliegende
dürre Aststücke gehören genauso zum harmonischen Gesamtbild
dieser einzigartigen Schöpfung wie das zartgrüne Farnblatt
das eben im Begriff ist, sich himmelwärts auszurollen.
Ehrfurcht durchdringt meinen Körper und meine Seele.
Der Schöpfer hat auf einem einzigen Quadratmeter
dieses Waldbodens mehr an Harmonie und Perfektion
geschaffen als die Menschheit mit all ihrem Wissen
und allem Geld in einem ganzen Leben nicht annährend
erreichen könnte. Und wir, wir Menschen gehören dazu,
sind Teil dieser Schöpfung auch wenn wir sie allzu
oft mit Füssen treten. Gott hat einmal zu seinen Anhängern
gesagt. Wer Augen hat zu sehen, der sehe. Und ich
denke bei mir. Du musst dir Mühe geben, den Blick
von innen wieder nach aussen zu richten. Die Schöpfung
dieser Erde hat es verdient be- und geachtet zu werden.
Noch brauche ich Zeit, aber meine Reise nach Compostela
und der nahende Aufenthalt in Lourdes werden mir sicher
dabei helfen. Andächtig fahre ich weiter und allmählich
entfernt sich der Bach von meinem Weg. Das Tal wird
breiter, der Wald lichter. Zuerst stehen einzelne
Stechpalmen verstreut zwischen den noch verbleibenden
Bäumen. Dann werden es immer mehr um letztendlich
einen wahrhaftigen Wald aus lauter Stechpalmen zu
bilden. Dazwischen wächst fast mannshoher Farn. So
etwas hatte ich bisher noch nie gesehen, einen richtigen
Stechpalmenwald. Es geht leicht bergab und meine Fahrt
bekommt ein forsches Tempo was immer einen Vor- und
auch einen Nachteil hat.
Man kommt flott voran, bekommt von der Gegend aber
nicht mehr viel mit, da man sich bei diesem Tempo
auf den Weg konzentrieren muss. Zu gut war mir die
höllische Abfahrt über die Wurzeltreppe noch in Erinnerung.
Und ich tat gut daran, denn kurz nach einer Biegung
lag ein wahrscheinlich vom Sturm gefällter Baumstamm
mitten auf dem Weg. Ich bremste und stieg ab. Noch
während ich mein Fahrrad über den Baumstamm hob viel
mein Blick an den Wegrand. Mir stockte der Atem und
Tränen schossen in meine Augen. Hier lag sie, fein
säuberlich über die Zweige einer Stachelpalme hingelegt,
so dass ich sie einfach sehen musste, die wunderschöne
Feder aus der Schwinge eines Raubvogels. Eine gleiche
Feder hatte ich von meinem Fahrradhelm abgenommen,
Zeichen meiner glücklichsten, aber vergangenen Zeit
und sie vor meiner Abfahrt in Sandras Grab gelegt.
Dort hatte ich bevor ich losfuhr Sandra gebeten, mir
unterwegs eine neue Feder zu schenken als Zeichen
einer neuen, unbestimmten Zeit die ich nun ohne sie
bestreiten sollte. Ich wusste ich würde sie erkennen.
Nicht eine jener unzähligen Federn die ich im Strassengraben
oder irgendwo im Feld draussen liegen sah, Federn
von Krähen, Hühner, Tauben etc. Nein, es würde etwas
besonderes sein, das wusste ich. Und hier lag sie
nun, am einzigen Ort wo ich zwangsläufig vom Rad steigen
musste, säuberlich hingelegt dass ich sie nicht übersehen
konnte und es war eine ganz neue, saubere und makellose
Feder und ich erkannte sie sofort. Das war sie, Sandras
Feder.
Und während ich ihr von ganzem Herzen dankte und
die Feder an meinen Helm steckte spürte ich, dass
ich mich den Herausforderungen einer neuen Zeit stellen
will und muss. Denn dies, davon bin ich überzeugt,
währe auch Sandras Wille.
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